Vereint in Vielfalt seit 100 Jahren

Einhundert Jahre zusammenzufassen - gar nicht so einfach. Wie bildet man all die Ereignisse zwischen 1924 und 2024 ab? Wir haben versucht, die wichtigsten Meilensteine des Paritätischen Bremen aufzustöbern. Denn sie sind nicht nur wesentlicher Teil der Sozialgeschichte in Bremen, sondern auch ein Spiegel der Gesellschaft.
Eine Chronik des Paritätischen Bremen
in Worten ...
Der Paritätische Wohlfahrtsverband wurde am 7. April 1924 als „Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands e. V.“ in Berlin gegründet. Er war zunächst gedacht als Vertretungsorgan für freigemeinnützige Krankeneinrichtungen, die weder von einem konfessionellen Verband – der Inneren Mission, dem Caritasverband oder der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden Deutschlands – noch vom Deutschen Roten Kreuz betrieben wurden. Wenig später kamen andere soziale Anstalten, Einrichtungen und Diensten der freien, nicht staatlichen Wohlfahrtspflege hinzu.
Weil also schon vier Spitzenverbände bestanden (die AWO verstand sich um diese Zeit als Parteiorganisation innerhalb der der SPD) wurde er ab 1925 „Fünfter Wohlfahrtsverband“ genannt. Seinen späteren Namen „Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband“ gab er sich erst 1932. Mit dem Wort „Parität“ verwies er auf die Gleichheit seiner Mitglieder, auf ihr gleiches Stimmrecht unabhängig von Größe, Einfluss und Finanzkraft.

In Bremen schlossen sich Institutionen wie Mütter- und Säuglingsheime, Kindergärten und Beratungsstellen zusammen. Traditionelle Vereine wie das "Haus Seefahrt" und Stifte für „alte unbescholtene Frauen“ wurden ebenso Mitglied wie "moderne" Organisationen, darunter auch der „Frauen-, Erwerbs- und Ausbildungsverein“ und der „Bund für Mutterschutz und Sexualreform“. Erster Landesvertreter wurde der Richter Emil Warneken, Vorsitzender des "Wöchnerinnenvereins". Stellvertretende Landesbeauftragte wurde Agnes Heineken, die Direktorin der Sozialen Frauenschulen des Frauen-, Erwerbs- und Ausbildungsvereins. Agnes Heineken, eine wichtige Figur in der Bremer Frauenbewegung, wurde eine wichtige Repräsentantin des Fünften Wohlfahrtsverbands.
Die Vereine traten dem „Fünften“ vor allem aus finanziellen Gründen bei, denn für die Mitglieder von Spitzenverbänden gab es Reichszuschüsse nach Betten und Platzzahl. In Bremen gab es schon damals ein aktives Sammlungswesen, die „Bremer Nothilfe“ und die „Bremer Kinderhilfe“. Die gesammelten Spenden wurden über die Wohlfahrtsverbände an die Einrichtungen weitergegeben, die damit ihre soziale Arbeit finanzierten. Der noch junge Verband wurde aber auch wohlfahrtspolitisch für seine Mitgliedsvereine tätig. Er beteiligte sich an Fürsorgeausschüssen und wirkte an Gesetzen für die Wohlfahrtspflege mit. Bis 1933 wuchs die Zahl der Mitgliedsvereine auf 30, darunter die „Zentrale für private Fürsorge“, das Haus Reddersen des „Vereins für die für die Bremische Idiotenanstalt“, der „Fürsorgeverein für Geistesschwache“, der „Verein für Blinde“, der „Mütter- und Säuglingsverein“, die alkoholfreien Speisehäuser des „Frauenbundes für alkoholfreie Kultur“ und der „Verein Jugendschutz“ mit seinen Mädchenhorten.

Im Juni 1934 wurde der Verband aufgelöst, nachdem sich die meisten Mitglieder – die einen freiwillig, die anderen zwangsweise – der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) angeschlossen hatten. Zustimmung zum neuen Regime und zum neuen "Volkswohlfahrt" waren unter den Mitgliedsorganisationen ebenso vertreten wie Strategien pragmatischer Anpassung und Versuche, sich dem Zugriff der Faschisten zu entziehen. So wählten etliche Vereine hohe nationalsozialistische Funktionäre in ihre Vorstände oder lobten beispielsweise „das energische Eingreifen der NS-Regierung gegen die Arbeitslosigkeit“ durch Notstandsarbeiten. Ein besonderes Schicksal erlitt das „Haus Reddersen", ein Heim für geistig behinderte Jugendliche und Erwachsene. Es sollte bereits 1937 in eine Heimstätte für „erbbiologisch einwandfreie Jugendliche“ umgewandelt werden. Dies konnten die Mitarbeiter bis zum Beginn des 2. Weltkrieges verhindern. 1939 wurde „Haus Reddersen“ jedoch vom staatlichen Gesundheitsamt beschlagnahmt, die meisten Bewohner wurden in andere Einrichtungen verlegt und dort getötet.

Das Ende des Krieges wurde zum Neubeginn der bremischen Wohlfahrtspflege. Bremen war zu 60 Prozent zerstört. Die Versorgung mit Wohnraum und Nahrung war katastrophal. In dieser Situation kamen die früheren Mitglieder bereits 1946 wieder zusammen, um den Paritätischen neu zu gründen. Hierzu bedurfte es der Anerkennung der amerikanischen Besatzungsbehörde und der Zustimmung der vorläufigen Regierung Bremens unter Bürgermeister Wilhelm Kaisen sowie des Wohlfahrtssenators Adolf Ehlers. Die Eintragung des „Fünften Wohlfahrtsverbandes, Landesgruppe Bremen“ ins Vereinsregister erfolgte am 24. Januar 1948. Zur Vorsitzenden wurde Agnes Heineken gewählt. Der Paritätische verfügte über keine eigene Geschäftsstelle, sondern gastierte in zwei ihnen von Mitgliedern angebotenen Räumen.
Eine Hauptaufgabe wurde zunächst die Verteilung der „ausländischen Liebesgaben“, wie die Care-Pakete aus Übersee damals hießen, sowie die Verteilung von Mitteln aus der vom Bürgermeister Kaisen wiederbelebten „Volkshilfe“. Für die Sammlungen stellten die Mitgliedsorganisationen selbst Sammlerinnen und Sammler. Die Spenden wurden – organisiert von der „Zentrale für private Fürsorge“ – an notleidende Familien als Mietbeihilfen, für einen Erholungsaufenthalt, für die Anschaffung von Werkzeug usw. verteilt.
Mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik entstanden auch neue Arbeitsgebiete: „Hilfen für Ostzonen-Flüchtlinge“ wurden angeboten und Mütterkuren organisiert. Die zunehmende Berufstätigkeit der Mütter verlangte nach Kindergarten- und Hortplätzen. Zum Verband kamen auch Schullandheime, die der städtischen Jugend preiswerte Erholungsmöglichkeiten boten.

Die 1950er Jahre wurden für den Verband zu einem Jahrzehnt der Konsolidierung. Dazu trug wesentlich der Beitritt von Organisationen wie der „Bremer Heimstiftung“ mit Wohnanlagen für ältere Menschen, der „Hans-Wendt-Stiftung“ mit einem kleinen „Pflegenest“ für unversorgte Kinder, dem Deutschen Jugendherbergswerk, dem „Arbeiter-Samariter-Bund“ und dem „Sozialwerk der Christengemeinschaft“ bei. Schlecht ausgestattete Kinderheime wurden zu „familiennahen“ Heimgruppen umgestaltet. Ebenso erweiterten kleine Vereine wie die neu gegründeten Schullandheimvereine, der Waldorf-Kindergarten oder die Bremer Straffälligenhilfe das Spektrum an Arbeitsfeldern und brachten dem Paritätischen den Ruf ein, „auch für die Kleinen da zu sein“.
Ab Mitte der 1950er Jahre betätigte sich der Paritätische auch in Bremen-Nord, wo Fürsorgeangebote ehrenamtlich aus dem Büro des Advent-Wohlfahrtswerk organisiert wurden. 1958 wurde schließlich auch eine Stadtgruppe Bremerhaven gegründet (die offizielle Gründung der Kreisgruppe erfolgte wenige Jahre später).
1962 hatte der Paritätische bereits 50 Mitgliedsorganisationen, auch finanzielle Mittel flossen reichlicher: Zur Volkshilfe kamen seit 1951 Erlöse aus dem Verkauf von Wohlfahrtsbriefmarken und ab 1955 Anteile aus dem „Zahlenlotto“ hinzu. Die Bremer Sparkasse gab Mittel für Kinderkuren, für die Mütterkuren sorgten die Sammlungen des Müttererholungswerks. Eine große anonyme Schenkung ermöglichte dem Paritätischen den Einstieg in die Altenfürsorge.
Nachdem die Geschäftsstelle bis 1952 ihre eigene Arbeit – neben dem ehrenamtlichen Engagement – allein aus Spenden finanzierte, wurde erstmals ein Mitgliedsbeitrag in Höhe von jährlich 20 DM erhoben.

Erst im Jahr 1963 bezog der Paritätische ein eigenes Verbandshaus in einem traditionellen „Bremer Haus“ im Fedelhören 49. Mit Dr. Katharina Kähler wurde eine promovierte Pädagogin zur Geschäftsführerin bestellt. Hatte sich der Verband bislang ausschließlich als Spitzenverband für selbständige Mitgliedsorganisationen gesehen, so hieß es laut der neu gegebenen Satzung, dass er „in besonderen Einzelfällen auch unmittelbare Sozialhilfe leisten und in Ausnahmefällen bestehende Wohlfahrtseinrichtungen übernehmen oder schaffen dürfe.“ So übernahm der Paritätische die Trägerschaft der Altentagestätte Wehrschloss. Ein wichtiger Meilenstein war auch die Eröffnung des ersten Bremer Mahlzeitendienstes „Essen auf Rädern“. 1964 fuhren die ersten Autos aus, um warme Mahlzeiten zu zunächst 40 älteren Menschen in die Wohnung bringen. 1967 titelte eine Bremer Tageszeitung dann schon „26.683 Mahlzeiten für 273 Personen.“
Ab 1975 gründeten sich die Paritätische Dienstleistungszentren, um ältere und behinderte Menschen im Alltag durch sogenannte Nachbarschaftshelfer*innen zu unterstützen. Eingebunden in die Dienstleistungszentren war seit 1976 ein „Mobiler Hilfsdienst“, bei dem Zivildienstleistende kleine Reparaturdienste, Unterstützung im Haushalt oder bei Gartenarbeiten anboten. Zur Bewältigung der Arbeit waren beim Paritätischen Bremen Ende der 1970er Jahre 32 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erforderlich.
Die Studenten- und Protestbewegungen um 1968 brachten erneute thematische Veränderungen und Schwung in den Verband. Neu entstandene Vereine befassten sich nicht mehr nur "fürsorgerisch" mit Kindern, älteren oder behinderten Menschen. Es gründeten sich die ersten selbstorganisierten Eltern-Kind-Gruppen, Kinderläden und Jugendwohngemeinschaften. Initiativen engagierten sich für drogenabhängige, straffällige, psychisch kranke oder wohnungslose Menschen. Ende der 1970er Jahre gab es 85 Mitgliedsorganisationen im Verband. Seiner wachsenden Bedeutung und den zunehmenden Aufgaben gemäß musste die Verwaltung neu gegliedert und professionalisiert werden. Es entstanden Abteilungen für Finanzen, Pflegesatzverhandlungen, Mitgliederbetreuung sowie Fachberatungen für Kinder- und Jugendhilfen, Behindertenhilfen, Altenhilfen und Familienhilfen.

Viele neue Vereine schlossen sich ab den 1980er Jahren im Paritätischen zusammen, weil sie einen „modernen“, nicht konfessionell gebundenen Spitzenverband suchten. Der Sparzwang im Sozialsystem veranlasste das zuständige Senatsressort zu einer Neuorganisation der Sozialen Dienste. Zudem setzte man unter dem Schlagwort „Selbsthilfe“ verstärkt auf Bürgerengagement und wollte kostspielige stationäre Hilfen durch mehr teilstationäre und ambulante Hilfen, mehr Selbstverantwortung und Selbstorganisation ersetzen. Hinzu kamen nun auch Initiativen, die sich für jahrzehntelang offen oder verdeckt diskriminierte Gruppen, etwa Psychiatriegeschädigte, Schwule und Lesben, Sinti und Roma oder AIDS-Kranke stark machten.
Seit 1982 leitete Albrecht Lampe den Landesverband. Die Mitglieder kamen in Arbeitskreisen zusammen, um Erfahrungen und Informationen auszutauschen und fachliche Positionen zu entwickeln. Unter Mitarbeit seiner Mitglieder nahm der Verband zu vielen sozialpolitischen Themen Stellung, etwa für einen behindertengerechten öffentlichen Personennahverkehr oder im Bündnis der Selbsthilfegruppen, dem „Bremer Topf“. Die ersten Selbsthilfetage und -kongresse wurden organisiert. In vielen Mitgliedsorganisationen waren ABM-Kräfte (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme) die ersten hauptamtlich Mitarbeitenden.
1982 wurde mit der „Individuellen Schwerbehindertenbetreuung“ ein ambulanter Hilfs- und Pflegedienst für schwerbehinderte Menschen gegründet (heute organisiert von der Paritätischen Tochter „Paritätische Dienste Bremen“). Spätestens seit dem ersten Paritätischen Armutsbericht im Jahr 1989 wurde der Paritätische auch in Bremen Sprachrohr für armutsbetroffene Menschen.
Ende der 1980er Jahre betrug die Zahl der Mitgliedsorganisationen rund 180.

In den 1990er Jahren entstanden in der Kindertagesbetreuung in Bremen viele Elternvereine. Um diese in pädagogischen, aber auch in finanziellen Fragen zu beraten, wurde 1993 die Kita-Beratungsstelle der Elternvereine gegründet (heute in Trägerschaft der „Paritätischen Gesellschaft für Soziale Dienste“). Weiterhin entstanden – auch mit dem 1996 eingeführten Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz – zahlreiche Kindergärten. Heute (2024) sind knapp ein Viertel der 200 Mitgliedsvereine in der Kindertagesbetreuung aktiv.
Große Reformen wie das Betreuungsgesetz (1992), das die alten Formen der Pflegschaft und Vormundschaft ablöste, oder die Einführung der Pflegeversicherung 1995, bestimmten auch in der Altenhilfe und Pflege die Arbeit. Mit der Abschaffung des Selbstkostendeckungsprinzips trugen die Einrichtungen nun immer stärker die finanziellen Risiken – jedoch ohne die Chancen einer wirtschaftlichen Betriebsführung. Spätestens mit der Neufassung des §93 Bundessozialhilfegesetz im Jahr 1999 hielt die Ökonomisierung Einzug in die Pflege und die soziale Arbeit.
Diese neuen Entwicklungen erforderten schließlich eine Neustrukturierung der Dienstleistungen des Paritätischen. Eine wichtige Weichenstellung für den Landesverband unter Jürgen Wäcken war 1994 die Gründung der Paritätischen Gesellschaften: Paritätische Dienste Bremen (PDB), Paritätische Pflegedienste (PPD), Paritätische Gesellschaft für Soziale Dienste (PGSD) und Paritätische Dienste der Seestadt Bremerhaven (PDSB), die seitdem zum Beispiel häusliche Pflege und Wohnangebote mit Service für ältere und behinderte Menschen leisten. Auch die Serviceangebote für Mitgliedsorganisationen wie Buchhaltung und Personalverwaltung wurden ausgebaut. Die fachpolitische Arbeit in den Arbeitskreisen organisierten Vertreter*innen von Mitgliedsorganisationen (Fachbereichssprecher). Mit seinen neu gegründeten Paritätischen Gesellschaften zog der Landesverband 1995 in funktionale Büroräume in der Eduard-Grunow-Straße ein.
Neue Mitglieder wie die Bremer Tafel, das Mädchenhaus oder Vaja brachten neue Impulse für sozialpolitische und sozialpädagogische Themen. Der gekürzte Zivildienst (der erst 2011 mit Aussetzung der Wehrpflicht ganz abgeschafft wurde), sorgte zwischen Sozialsenatorin und der Wohlfahrt immer wieder für Diskussionen: Weniger Zivis = es muss mehr hauptamtliches Personal her. Um dies zu refinanzieren, müssen die Pflegesätze steigen.
Als der Paritätische 1999 sein 75. Jubiläum mit Rathaus-Empfang und einem Markttag feierte, präsentierte sich ein selbstbewusster Verband mit Zukunftssorgen.

Die Jahrtausendwende stellte den Paritätischen vor neue Anforderungen: Die Finanzierungsnöte der Stadt erforderten veränderte Angebote. „Marktfähigkeit" war gefragt. Angebote sollten schnell, effektiv und preisgünstig sein. Damit zogen in den 2000ern auch Begriffe wie Qualitätsmanagement und Prozess- und Ergebnisqualität in die verbandliche Arbeit ein. Auf der Suche nach einem „dritten“ Weg zwischen „Ökonomisierung der Sozialarbeit“ und „Eintreten für Gerechtigkeit und soziale Innovation“ wurde es auch Zeit für ein neues Leitbild. Nach dem Vorbild des Gesamtverbands gab sich der Landesverband im Oktober 2001 ein neues Leitbild, das widerspiegelte, was den Verband bis heute ausmacht: Pluralität, Offenheit, Toleranz.
Die Umstrukturierungen auf dem Arbeitsmarkt, die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (Hartz IV) und die Neufassung des SGB XII 2005 beschäftigten den Paritätischen auch in Bremen. Die sogenannten Ein-Euro-Jobs wurden von vielen als diskriminierend empfunden, dennoch beteiligen sich viele Beschäftigungsträger an diesen Beschäftigungsmaßnahmen.
Unter dem Vorsitz von Gerd Wenzel erarbeitete der Verband ab 2004 jährlich Positionspapiere mit dem Ziel, politisch präsenter und in der Öffentlichkeit wahrnehmbarer zu werden. Viele der Papiere haben bis heute nicht an Aktualität eingebüßt (siehe Debatte Kindergrundsicherung). Auch die sozialwirtschaftliche Bedeutung von sozialen Dienstleistern und Wohlfahrtsverbänden wurde durch den Landesverband in den Vordergrund gerückt. Tenor einer Untersuchung: Ausgaben für den Sozialbereich werden häufig rein als Kosten gesehen. Auch wenn die Sozialwirtschaft ohne unentgeltliche Leistungen nur rund drei Prozent der Gesamtwirtschaft ausmacht, so ist doch ein wesentlicher höherer Prozentsatz der Bevölkerung von sozialwirtschaftlichen Leistungen abhängig und auf diese angewiesen.
Der tragische Tod des Jungen Kevin im Oktober 2006 – die Leiche des Jungen wurde im Kühlschrank seines drogenabhängigen und gewalttätigen Ziehvaters gefunden – wurde zum traurigen Sinnbild des Versagens der bremischen öffentlichen Jugendhilfe. Diese war zuvor verstärkt wirtschaftlichen Kriterien unterworfen worden: Kosten senken und Budgets einhalten. Wohlfahrtsverbände und freie Träger hatten vergeblich vor Kindeswohlgefährdung unter den Augen des Jugendamts gewarnt. Bis heute engagieren sich die Wohlfahrtsverbände und Träger, damit sich so eine Tragödie nie wiederhole.
Unter Wolfgang Luz (Vorstand ab 2006), der seine Paritätische Karriere als Kreisgruppengeschäftsführer in Bremerhaven begonnen hatte, gründete sich im Sommer 2007 das Paritätische Erziehungshilfenetz – für eine verbesserte Zusammenarbeit, für eine wirksame Interessenvertretung, für mehr Transparenz und Qualität.

Ende 2010 bezog der Paritätische wieder ein eigenes Verbandshaus. In der neuen Geschäftsstelle „Außer der Schleifmühle“ waren und sind neben den Büros des Landesverbandes auch die Paritätischen Tochtergesellschaften mit Pflege- und Betreuungsangeboten zu finden. Die obere Etage wurde an Mitgliedsorganisationen vermietet.
2011 stieß die Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets beim Paritätischen auf Kritik. Ein „bürokratisches Monster“ wäre es, und viel zu wenig Leistungen kämen bei den Kindern und Jugendlichen selbst an. Der Paritätische forderte stattdessen höhere Regelsätze und einen Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe. Die Aussetzung des Zivildienstes und Einführung des Bundesfreiwilligendienstes im Sommer 2011 verstärkte die Frage, wie man junge Menschen für soziale und pflegerische Tätigkeiten motivieren könnte – auch angesichts eines schon akuten Fachkräftemangels in diesen Bereichen.
Unter Gerd Wenzel brachte sich der Paritätische Bremen zunehmend in zivilgesellschaftliche Fragen ein, auch das Thema Armutsbekämpfung gewann an Bedeutung. Als ein Mitbegründer der Bremer Armutskonferenz – einem Bündnis aus Akteuren der Wohlfahrt, der Arbeitnehmerkammer und anderen – setzte der Paritätische Bremen seit 2013 regelmäßig den Fokus auf Armutsthemen und stellte gemeinsam mit den anderen Bündnispartnern die erarbeiteten Lösungsansätzen dem Bremer Senat vor.
Im November 2013 startete das BeBeE als unabhängiges Beratungs- und Beschwerdebüro für die Erziehungshilfen, das Kinder, Jugendliche und ihre Familien bei Problemen im Erziehungshilfesystem ombudschaftlich berät. Damit betrieb der Landesverband fast 20 Jahren nach Ausgründung der Tochtergesellschaften wieder einen eigenen Dienst.
Der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder unter drei Jahren ab 2013 bewirkte einen Zuwachs an Plätzen in Elterninitiativkindergärten. Allerdings blieb die Finanzierung unzureichend. Bis heute setzt sich der Verband für eine Verbesserung der finanziellen Situation der Elternvereine ein.
2015 kamen wegen Bürgerkriegen, Verfolgung, Not und Hunger viele geflüchtete Menschen nach Bremen, darunter auch viele unbegleitete Minderjährige. Die Paritätischen Erziehungshilfeträger waren stark gefordert, Betreuungs- und Hilfsangebote für diese jungen Menschen zu schaffen.
Unter dem 2016 gewählten Vorsitzenden Dr. Hermann Schulte-Sasse setzte sich der Paritätische in den Folgejahren sowohl in politischen Debatten als auch in Positionspapieren verstärkt für sozialpolitische Themen wie „Recht auf Wohnen“, Drogenpolitik und Sozialökologische Transformation ein. Es begann eine Zusammenarbeit mit dem BUND Bremen.

Die 2020er Jahre sind weltweit geprägt von Krisen, die auch den Paritätischen und seine Mitglieder prägen. Die Corona-Pandemie traf den Landesverband wie jeden anderen Arbeitgeber. Digitale Arbeitsweisen wie Online-Seminare, Zoom-Konferenzen und Homeoffice etablierten sich. Aber auch als Dachverband für zahlreiche Einrichtungen mit „vulnerablen Personen“ aus Altenhilfe, Pflege und Eingliederungshilfe sowie Kitas und Jugendhilfeeinrichtungen, die mit sich ständig ändernden Regeln umgehen müssen, war der Paritätische gefragt. Der Landesverband übernahm hier rasch die Funktion des Vermittlers zwischen Politik, Gesetzgebung und institutioneller Praxis.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 löste einen Krieg in Europa mit ungeahnten Folgen aus. Auch Bremer Mitgliedsorganisationen waren unter den ersten, die Menschen auf der Flucht und beim Ankommen im Land Bremen helfen – lange bevor Politik und Verwaltung reagieren. Der Paritätische unterstützte durch Fördermittel und trug zu einer engeren Vernetzung von Jugendhilfe und Geflüchteten-Organisationen bei.
2023 trat Birgitt Pfeiffer die Nachfolge von Wolfgang Luz an und leitet seitdem als hauptamtliche Vorständin die Geschäfte des Bremer Landesverbands. Die Folgen des Kriegs wirken sich auf viele Lebensbereiche aus: Energiekrise und Inflation bringen auch die Sozialpolitik in eine Schieflage. Gemeinnützige Organisationen sind von Haushaltkürzungen oder reduzierten Zuwendungen betroffen und müssen Angebote kürzen. Der Paritätische setzt sich sowohl auf politischer Ebene – etwa durch Besuche bei Senator*innen oder über die Landesarbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtspflege – und in persönlichen Beratungen ein. Die Unterstützung in juristischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Fragen bleibt bei den rund 190 Mitgliedsorganisationen weiterhin sehr geschätzt.
Auch 2024 macht sich der Paritätische Bremen stark für eine tolerante, offene und vielfältige Gesellschaft. Ebenso wie vor 100 Jahren steht er für die Bedürfnisse armer und benachteiligter Menschen ein und versucht Politik und Öffentlichkeit für diese Themen zu sensibilisieren. Nach 100 Jahren ist es (leider) wichtiger denn je, sich den rechten und populistischen Narrativen in den Weg zu stellen und die Mitgliedsorganisationen dabei zu unterstützen, gute Arbeit für Geflüchtete, Menschen mit Behinderung, für Armutsbetroffene oder auch Menschen aus der queeren Szene leisten zu können.

... und in Bildern
Vielen Dank an Anke Teebken (bis 2022 Pressereferentin) und Jürgen Blandow (1991 bis 2004 Vorstandsvorsitzender des Paritätischen Bremen), die uns bei der Recherche ehrenamtlich unterstützt haben!